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Dieter Forte

Das Haus auf meinen Schultern
Seite 506-513

Die Heeresstreife erschien kurz vor Ende des Krieges im Quartier, beschlagnahmte eine der wenigen noch nicht zerstörten Wohnungen und war von nun an für die Ordnung im Quartier zuständig. Von ihren Ordungspatrouillen kam sie mit Mehl und Zucker, Schmalz und Würsten zurück, schleppte die vielen Säcke und Eimer in die Wohnung, handelte damit, besaß Lebensmittel, die die Menschen seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, besaß echten Cognac und alte französische Weine in einer Menge, daß man meinen konnte, das Kriegsziel des Deutschen Reiches sei die Anschaffung von Wein und Cognac gewesen. Sie besoffen sich, holten schwankend, kotzend, pissend, sich an ihren Karabinern festhaltend, alte Männer, die nicht zum Volkssturm wollten, und Sechzehnjährige, die nicht mehr an die Front wollten, aus ihren Verstecken, holten Frauen, die ihre Männer, Väter, Brüder, Söhne versteckten, aus ihren Wohnungen, trieben sie gefesselt auf einen Lastwagen, karrten sie durch die Gegend, folterten sie, schlugen sie blutig und erschossen sie irgendwo. Sie waren die letzte und sinnfälligste Ordnungsmacht des Dritten Reiches, das den Weltuntergang nach den Regeln der Opernkunst inszenierte, den heldischen Liebestod für Volk, Führer und Vaterland, Männer, die sich im Suff jeden Tag gegenseitig beförderten, zu Offizieren ernannten, aus einem ganzen Arsenal von Kriegsorden, die sie in einer großen Kiste mit sich herumschleppten, die tollsten heraus-suchten, sich umhängten und salutierten und Heil Hitler schrien, in einer von ihnen inzwischen vollständig zerstörten Wohnung, die voller Blut war, Blut an den Wänden, Blut auf dem Boden, in der sie Frauen eine Gardinenkordel um den Hals zogen, damit sie schon mal das Erhängen genießen konnten, in der sie junge Männer gefesselt niederknien ließen und hinter ihnen mit dem Abzug der Maschinenpistole spielten, das knackende Geräusch, das den Tod ankündigte. Und der Feldwebel mit dem amputierten Bein schnallte je-den Tag seine Prothese an, zog den Kradmantel über seine Uniform, legte den Karabiner um, soff sich voll und marschierte los, um Menschen zu foltern, zu erschießen, zu erhängen, marschierte seinen Todesschritt auch noch, als die Amerikaner schon vor der Stadt lagen, als man schon die Panzer brummen hörte, marschierte weiter mit dem alten Lied, das er immer gesungen hatte: »Und wenn alles in Scherben fällt. « Er folgte dem Befehl seines Führers: »Denn heute gehört uns Deutschland«, folgte dem Befehl des Tötens, war der verkörperte Tod.

Opa Winter war Jude, ein kleiner, weißhaariger, immer höflicher und hilfsbereiter Mann mit einem Schnurrbart und einem kauzigen Lächeln, mit gutmütig zwinkernden Äuglein, die immer zu sagen schienen: »Das wird schon wieder. Das kriegen wir wieder hin. Alles nicht so schlimm. Es wird schon alles gut werden. « Opa Winter reparierte alles und war daher ein sehr begehrter Mann, eigentlich war er Klempner, aber im Laufe seines Lebens und mit fort-schreitender Zerstörung des Quartiers wurde er auch Schlosser, Schreiner, Glaser, Dachdecker, stand oben in der Dachrinne und winkte, fuhr mit seinem Kärrchen durch die Straßen und grüßte jeden, tröstete Alte und Kinder, die weinend in den Resten ihrer zerstörten Wohnungen hockten, und sagte: »Alles nicht so schlimm, wird alles wieder gut. « Alle kannten Opa Winter, und alle wußten, daß er Jude war. Er trug keinen gelben Stern auf seiner Kleidung, weil er das nicht wollte und weil das im Quartier auch nicht nötig war. Er besaß gefälschte Papiere, keiner fragte ihn danach. Er wohnte weiter im Quartier, sicher wie in Abrahams Schoß, auch als die Juden der Stadt in langen Zügen vom Schlachthof ab-transportiert wurden. Er sagte: »Die kriegen mich nicht«, zog mit seiner Karre durchs Quartier, und weil er keine Lebensmittelkarten bekam, beschäftigten ihn die Menschen mit vielen kleinen Aufträgen, die sie ihm gut bezahlten, damit er nicht hungern mußte, und Opa Winter zwinkerte mit den Augen, lächelte unter seinem Altmännerschnurrbart und sagte: »Wird schon alles gut werden. «

Opa Winter wohnte, auch das wußten alle, beim Herkules, der eine Wirtschaft betrieb und im Quartier als der stärkste Mann der Welt bezeichnet wurde. Er war vielfacher Deutscher Meister, Europameister, Weltmeister und Olympiasieger im Gewichtheben, Stemmen und Ringen und einfach ein Koloß, ein Herkules. Er hatte so viele Siege errungen, daß er selber nicht mehr sagen konnte, wie viele, die vielen Welt-und Europameisterschaften, die vielen Olympiasiege gerieten ihm durcheinander, die deutschen Meistertitel zählte er schon gar nicht mehr. Vor seinen Kämpfen trainierte er gerne öffentlich zur Freude der Zuschauer mit Billardtischen, die er mit vier Mann belud, anhob, um die eigene Achse drehte und geräuschlos wieder absetzte, wobei er ein Gesicht machte, das allen Zuschauern mitteilte, daß so etwas die leichteste Sache der Welt sei. Hinter seiner Theke hing, eingerahmt von Diplomen und Siegerkränzen, eine Sammlung von Gold-, Silber- und Bronzemedaillen, deren Gesamtgewicht auf mindestens zwei Zentner geschätzt wurde. Dazwischen hingen Bilder, die Herkules im Trikot zeigten, behangen mit Medaillen, stand er breitbeinig da, die Arme ausgebreitet und rechtwinklig nach oben gebogen, bildeten Nacken, Schulter und Oberarme eine hügelige Landschaft, ein Muskelgebirge, das in zwei großen Fäusten endete. Die zwei Arme packten zu, wenn ein Gast in seiner Wirtschaft einem anderen »Schäle Kopp, fiese Möpp, dummes Arschloch! « zurief, worauf der Schreier ungehindert in einem schönen Steig- und Sinkflug durch die Kneipe in das kalte Luftloch der Straße segelte, ungehindert deshalb, weil sich der stärkste Mann der Welt für diese Zwecke eigens eine Schwingtür hatte einbauen lassen, die das freie, segelnde Schweben erst so richtig ermöglichte.

Wenn der Junge abends einen Krug Bier für Gustav beim Herkules holen mußte, trödelte er oft eine Stunde herum in der Hoffnung, einen solchen olympischen Hinauswurf mitzuerleben, denn das geschah oft, weil viele Gäste ihn provozierten, und Gustav verzieh ihm dann das abgestandene Bier, dessen Schaum der Junge auch noch abgetrunken hatte, wenn er dieses Schauspiel in allen Einzelheiten seines Ablaufs erzählte.

Herkules war Opa Winters bester Freund. Wenn die zwei durchs Quartier gingen, konnte sich jeder die Geschichte von David und Goliath vorstellen, nur daß David und Goliath hier Freunde waren. Opa Winter wohnte im Haus des Herkules in einer Dachwohnung, und wenn die SA erschien, und das tat sie oft, um Opa Winter abzuholen, stand sie zunächst einmal vor dem stärksten Mann der Welt, der sie vor die Tür setzte. Und wenn sie doch die Treppe hochliefen, weil es viele waren, mehr, als auch ein Herkules festhalten konnte, drückte er auf eine Klingel. Opa Winter wußte Bescheid, sprang aus dem Fenster und tanzte leicht und klein, wie er war, über die Dachrinnen ins Nachbarhaus. Sie bekamen ihn nie.

Als es kaum noch etwas zu essen gab, fuhr Opa Winter mit seinem gefälschten Ausweis über die Rheinbrücke an allen Kontrollpunkten vorbei ins Linksrheinische, ließ sich dort seine kleinen Reparaturen mit Speck, Brot, Kartoffeln und Butter bezahlen und verteilte diese Schätze an die Menschen im Quartier, so daß ein höflicher, gutmütiger Jude mitten im Krieg viele Menschen vor 'dem Verhungern rettete. »Es wird schon alles gut«, sagte er und verkündete allen mit der Überzeugung eines Propheten: »Nach dem Krieg werde ich Bürgermeister. Dann geht es euch allen gut. Dann bekommt ihr Butter, Eier und Speck, soviel ihr wollt. « Als er beim Herkules nicht mehr wohnen konnte, weil das bei der Stadt nun einmal aktenkundig war, nahmen ihn andere Familien auf. Er lebte mit ihnen in ihren Wohnungen, mit Einverständnis der Hausbesitzer und der Nachbarn, obwohl alle wußten, daß die Todesstrafe darauf stand, aber sie nahmen ihn auf und nahmen ihn bei den Luftangriffen mit in den Keller, obwohl auch das bei Todesstrafe verboten war. Wurden die Wohnungen ausgebombt, fand er andere Wohnungen, in die er einziehen konnte, er erschien mit seinem Köfferchen, brachte ein paar Blumen mit, lächelte, zwinkerte mit den Augen: »Wird schon alles gut werden. « Als die meisten Wohnungen zerstört waren und die Menschen in Kellern und Höhlen lebten, lebte er zunächst in einem Gartenhäuschen, das man ihm zur Verfügung stellte, und später in einer Erdhöhle auf einem kleinen Gartengelände, in dem der Junge mit anderen Jungen auf der Suche nach etwas Eßbarem herumstromerte. Oft trafen sie dabei auf Opa Winter, sie wußten, Opa Winter versteckt sich hier, weil er Jude ist, es war für alle das Selbstverständlichste von der Welt.

Die Heeresstreife, die auf der Suche nach Fahnenflüchtigen, nach jungen Männern, eigentlich noch Kindern, die sich vor ihrem ersten Einsatz fürchteten, und nach alten, an Körper und Seele zerschundenen Soldaten, die sich verkrochen hatten, um nicht noch in den letzten Kriegstagen zu sterben, das Quartier mit Hausdurchsuchungen und wahllosen Erschießungen terrorisierte, fand auch Opa Winter. Ihr entkam keiner, ihr Todeswille herrschte unumschränkt. Zwei Tage bevor die Panzer der Amerikaner über die Hauptstraße und den Markt des Quartiers in die Stadt einfuhren, erhängten sie ihn am Markt, wählten bewußt diesen Platz, um dem Quartier ihre Macht zu zeigen, am Luftschacht eines Bunkers, in dem Hunderte von Frauen mit ihren Kindern saßen, damit alle in diesem Quartier 0pa Winter hängen sehen konnten. Drei Männer in Kradmänteln mit umgehängten Karabinern, darunter der Feldwebel mit der Beinprothese, schleppten ihn, der immer wieder hinfiel, über den Platz, banden eine Schlinge an den Luftschacht, während er mit blutunterlaufenem Gesicht, dick geschwollenen Lippen, verletzten Augen, zerschunden und geschlagen, danebenstand. Sie hoben ihn hoch, legten ihm den Strick um den Hals und ließen ihn los, sie wiederholten das, weil es beim ersten Mal nicht klappte, der Körper zuckte ein paarmal und war dann ruhig.

Die Frauen, die schreiend und protestierend aus dem Bunker kamen, wurden von einem vierten Soldaten mit einer Maschinenpistole wieder in den Bunker zurückgejagt. Dann hängten sie Opa Winter ein Schild um Ich bin ein Volksverräter und marschierten als letzte Einheit der deutschen Armee ab, angeführt von dem Feldwebel mit der Prothese, der in seinem staksigen Stechschritt der Truppe pflichtbewußt voranschritt. Das war an einem Sonntagmorgen. Opa Winter hing den ganzen Tag dort. Auf einem großen Platz, auf dem ihn alle sehen konnte auch sein bläulich zerschundenes Gesicht mit der heraushängenden Zunge. Er hing ruhig und in Frieden, umgeben von den Ruinen der ausgebrannten Häuser, die die Totenwache hielten.

©Dieter Forte